Impuls vom 18.04.2021
Gedenken an die Hinterbliebenen und Verstorbenen der Corona-Pandemie
Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes zum Gedenken an die Hinterbliebenen und Verstorbenen der Corona-Pandemie am 18. April 2021 in Berlin
Predigttext: Lukas 24,28–35
Ostergeschichten sind keine Märchen, die Weisheiten des Volkes in Szene setzen. Sie sind auch keine Mythen neben der Wirklichkeit, in die man flüchten kann, wenn es hier unerträglich wird. Ostergeschichten stehen mitten im Leben, so wie es ist – und wie es uns zugemutet ist.
Es ist gut, dass der Bundespräsident uns heute dazu einlädt, innezuhalten und der vielen Toten zu gedenken. Denn Krankheit, Sterben und Tod lassen sich in diesem langen Jahr nicht wegdrücken, sie schneiden tief ein in das Leben vieler Menschen. Ihr Bild hat sich auch verändert. Tod und Sterben sind uns näher gerückt als zuvor: Ich schaue beispielsweise jeden Tag einmal bewusst auf die Zahl der Verstorbenen und gedenke der Menschen in einem stillen Augenblick. Und gleichzeitig sind sie weiter weg, unsichtbarer, unberührbar. Von jetzt auf gleich müssen Patienten ins Krankenhaus, Abschiede sind holprig und überstürzt. Dann oft kein Besuch, kein Sich-Aussprechen, kein Trösten in der Angst, kein vergewissernder Blick in die Augen, keine vertraute Hand. Und auch nach dem Versterben ist alles anders als gewohnt: Wie wichtig wäre es, als Angehörige noch mit den Verstorbenen verweilen zu können; die Stille und den Frieden aufzunehmen, die einkehren; gegen den Schrecken letzte Worte zu sagen, die Liebe ausdrücken und Schmerz und Trauer und Verzeihen. Sterben an einer ansteckenden Krankheit lässt das alles nicht zu – nicht einmal ein Begräbnis, an dem viele teilnehmen, diesen Menschen würdigen und den Angehörigen beistehen. Es fehlt so viel. Verpasste Augenblicke sind verpasste Chancen – sie sind einmalig, da gibt es kein zweites Mal.
Ich habe es in meinem persönlichen Umfeld erlebt. Was hier alles fehlt, was einem an Nähe und Zuneigung geraubt wird durch die Pandemie, das verwundetdie Seele. Ein junger Mann kennt sich selbst nicht wieder. Der Tod des Großvaters lässt ihn nicht los. Es arbeitet in ihm, Träume, Unruhe, Schlaflosigkeit, Kloß im Magen. „Traurigsein ist wohl etwas Natürliches“, hat jemand gesagt, „es ist ein Atemholen zur Freude“. Auch das ist jetzt ganz anders. Der anderen Weise des Sterbens in dieser Zeit entspricht oft eine andere Art der Trauer. Sie vergeht nicht einfach. Sie bleibt irgendwie stecken – und Menschen in ihr.
Ostergeschichten stehen mitten im Leben. Die beiden Freunde Jesu unterwegs nach Emmaus mussten Ähnliches erleben. Ihr Meister wurde einfach weggerissen. Unfassbar. Sie hatten auf diese eine Karte ihr ganzes Leben gesetzt. Und jetzt? Ostergeschichten sind Wegerfahrungen. Mit dem auferstandenen Christus unterwegs zu sein, das berührt und verändert. Das Schwere und Unbewältigte darf nicht einfach zur Seite geschoben, ins Unterbewusste gedrückt werden. Miteinander gehen hilft. Den Unerkannten dazu lassen. Erzählen ordnet und befreit. Deuten macht Sinn. Sich hinsetzen, miteinander essen und trinken – und siehe da: Das brennende Herz der Hoffnung ist wieder da.
Biblisch übersetzt bedeutet Hoffnung „gespannt sein“. Als Mensch ausgespannt sein zwischen Erfahrungen, die Halt geben und Fundament, und einer Verheißung im Glauben, die vorwärtsdrängt. Hoffnung wendet Müdigkeit, Erschlaffung und Depression. Hoffnung schenkt Mut und Widerstandskraft. Hoffnung motiviert zum Handeln.
Der Priesterpoet Andreas Knapp beschreibt sie so:
ausweglos
in der sackgasse
und doch steht in der mauer dir
eine türe offen
aussichtslos
in jeder beziehung
und doch spürst du
einen wärmenden blick
ausgebrannt
der innere mensch
und doch wartet glimmende glut
auf einen windstoß
ausgelaugt
in schlaflosen nächten
und doch staunen über das sternenlicht
das in die schwarzen pupillen fällt
ausgesetzt in der sterbestunde
und doch im letzten atemzug
noch
und doch
(Andreas Knapp, Tiefer als das Meer. Gedichte zum Glauben, Würzburg 2005, 71).
Die Ostergeschichte von Emmaus macht mir Mut. Unsere Toten finden ihren Weg ins Leben an der Hand des auferstandenen Jesus. Und auch die Trauernden werden gut begleitet ihren Weg zu neuer Lebensfreude finden. Und wir – miteinander und in Verantwortung füreinander – finden heraus aus dieser Pandemie. Denn Gott geht mit uns. Wir dürfen gespannt sein.